Im Folgenden – für alle, die es interessiert – ein Werkstattbericht zu meinem Klavierstück 010318 – variations für mein Radio-und Social-Media-Projekt NETZWELLEN. Hier ist die Partitur abrufbar, die man stets parallel zum Lesen dieser Analyse betrachten sollte. Die Analyse umfasst das gesamte Stück, behandelt aber schwerpunktmäßig die ersten beiden Abschnitte (also bis Takt 15).

Das Stück ist – wie auch der Titel sagt – eine Art Variations-Werk: Somit besteht es im Wesentlichen aus unterschiedlichen Variationen eines zu Anfang vorgestellten Materials. Dies wird für die Hörer*innen jedoch aufgrund sehr starker Verarbeitung und Veränderung dieses Materials und einer "fließenden" Form, in der die Übergänge der einzelnen Abschnitte nicht unbedingt "markiert" sind, wohl nicht auf Anhieb bemerkbar sein. Es ist auch nicht die Idee dieses Stücks, im Sinne eines Variations-Zyklus klar voneinander abgegrenzte, möglichst mannigfaltige Veränderungen des Ausgangsmaterials hintereinanderzuschalten: Vielmehr soll die durch das Variations-Prinzip gewährleistete Material-Homogenität dazu beitragen, eine schlüssige und kurzweilige Komposition zu schaffen, der – trotz der Variations-Grundstruktur – doch ein hohes Maß an Gestaltungsfreiheit innewohnt. So habe ich sogar auch immer wieder Abschnitte (z. B. den Abschnitt "Takt 9 bis Takt 15") eingeschoben, die nicht direkt dem Variationsprozess entspringen.

Das "Quasi-Thema" (das keineswegs hörbar als solches markiert oder – wie in manchen romantischen Variations-Zyklen – gar zelebriert wird) geht von Takt 1 bis Takt 8. Ich habe es gestaltet aus Fragmenten des "Ur-Stücks" der Projekte WIReless und NETZWELLEN, 010616: Das gesamte Tonmaterial des Stücks 010616 habe ich zunächst zwölffach transponiert und zudem eine Umkehrung des kompletten Materials gebildet (ein bestimmtes absteigendes Intervall im Original ergibt bei der Umkehrung dasselbe aufsteigende Intervall, und umgekehrt), die anschließend ebenfalls zwölffach transponiert wurde. Mit diesem Material habe ich dann "gespielt": damit gearbeitet, wie etwa ein bildender Künstler mit unterschiedlichen Materialien verfährt. Ich habe mich gefragt: Wie kann man aus einzelnen Motiven oder aus melodischen "Fetzen" von 010616 und seinen 23 Abwandlungen (23, zumal das Original die Nummer 24 darstellt) ein neues spannendes Material gestalten, das zudem dazu geeignet ist, die quasi-thematische Basis für ein komplett neues Stück zu bilden? Dies hat viel mit Inspiration und Gespür für die richtige Form zu tun; im Einzelnen kann man dies kaum beschreiben oder gar bestimmte Entscheidungen "begründen". Dennoch kann sich, wer will, auf eine Spurensuche begeben – die Partituren stehen im Netz ...

Zwei Beispiele:

Dies ist der Anfang von 010616 im Original; die ersten fünf Töne der zweiten Phrase sind farbig hervorgehoben:

Dies ist die Umkehrung desselben, die zudem transponiert ist; die Entsprechungen der oben genannten Töne sind ebenfalls farbig hervorgehoben:

(Da ich diesen Partiturausschnitt ursprünglich nur "für mich" für Arbeitszwecke erstellt habe, habe ich nicht darauf geachtet, dass alles ordentlich aussieht – was ich bei den Endfassungen meiner Stücke ja stets tue. Daher ist hin und wieder etwas "verrutscht", z. B. die Legato-Bögen ...)

Hier sieht man nun, wie die in den beiden vorigen Notenbeispielen farbig markierten Töne (bzw. ihre Entsprechungen) in die Endfassung meiner Komposition 010318 – variations einfließen:

Auch dieser Takt von 010318 – variations ...

... dürfte "Kenner*innen" des Stücks 010616 vertraut vorkommen; hier die ursprüngliche Stelle aus 010616:

Ab Takt 9 beginnt ein neuer Abschnitt, der bis Takt 15 reicht – und der nicht direkt die Takte 1 bis 8 variiert (das kommt noch später ...), sondern ein kleines Zahlenspiel wagt ... Da auch Motive dieses Abschnitts in den Abschnitten "Takt 29 bis Takt 35" und "Takt 36 bis Takt 39" variiert werden, könnte man auch den Abschnitt "Takt 9 bis Takt 15" als quasi-thematisch bezeichnen ... Wenngleich die Abschnitte "Takt 1 bis Takt 8" und "Takt 9 bis Takt 15" weitestgehend unterschiedliches musikalisches Material beinhalten (ein paar "Überschneidungen", insbesondere motivischer Art, gibt es gewiss ...), sind sie charakterlich wesensverwandt – wobei der Abschnitt "Takt 9 bis Takt 15" etwas perkussiver wirkt als der Abschnitt "Takt 1 bis Takt 8".

Bei "Takt 9 bis Takt 17" komponiere ich (wie schon bei 010616) wieder aus den Social Networks "extrahierte" Zahlenreihen ein. Dies stellt einen "geheimen", nicht direkt heraushörbaren Bezug zu meiner sozial-medialen "Außenwelt" her, was ich hochspannend finde. In diesem Fall habe ich aus aufeinanderfolgenden Uhrzeiten meiner Facebook-Postings eine Zahlenreihe erstellt (die Uhrzeiten 00:01 Uhr und 20:29 Uhr bilden z. B. am Anfang die Zahlenfolge 00012029). Anhand dieser Zahlenreihe habe ich das Tonmaterial für die Passage "Takt 1 bis Takt 8" gefunden. Dafür habe ich bei der folgenden Transposition der ersten Phrase von 010616 die Töne von 1 bis 9 durchnummeriert:

Dann habe ich aus meiner Zahlenreihe alle Nullen herausgestrichen und anschließend die Tonreihe notiert, die sich aus der Zuordnung von Zahlen und Tönen im obigen Beispiel ergibt: 00012029 wird ohne Nullen 1229, und das entspricht den Tönen E-F-F-A. Diese findet sich – gewiss über die Oktaven der Tastatur verteilt – in "Reinform" am Anfang von Takt 9.

Bei der endgültigen künstlerischen Ausgestaltung bin ich – das finde ich sehr wichtig – aber nicht zu hundert Prozent "streng" vorgegangen. Wenn mein Gespür mir etwa gesagt hat, dass einmal zwei Töne zu vertauschen seien, habe ich dies getan; allerdings nur in Einzelfällen wie diesem:

Das Facebook-Posting erfolgte um 13:27 Uhr ...

Das findet sich in der Zahlenreihe wieder ...

Laut der definierten Zuordnung von Zahlen und Tönen ergäbe das die Tonfolge E-D-F; ein Ergebnis, dem ich im Manuskript auch (noch) folgte:

(Gesamte Manuskript-Seite hier zum Download)

In der Endfassung allerdings hielt ich es jedoch für musikalisch schlüssiger, wenn sich das D ein wenig nach vorne verschiebt:

Mitunter führen ein solche "Zahlenspiele" auch zu Resultaten, die im "traditionellen" Sinne Fremdkörper innerhalb der Komposition darstellen: Ich meine etwa die stark "diatonisch" geprägte "Melodie" in Takt 14. Das halte ich aber für akzeptabel und authentisch: Meiner Meinung nach integriert sich die genannte Passage "auf ihre Weise" sogar hervorragend in den Kontext!

Während im zweiten Abschnitt prinzipiell niemals zwei Töne gleichzeitig erklingen (mit Ausnahme von Takt 17), wird im – auch charakterlich sehr von dem zuvor Gehörten abweichenden – Abschnitt "Takt 16 bis Takt 28" das thematische Material des Anfangs komplett zu Akkorden verdichtet: Dies ist ein (fast) klassischer Variationssatz, der in puncto Material exakt dem "Thema" folgt.

Die letzten beiden Abschnitte, "Takt 29 bis Takt 35" und "Takt 36 bis Takt 39" sind auch ganz eindeutig Variationen des zuvor Gehörten. Die Bezüge sind mal überdeutlich, mal versteckter: So ist z. B. Takt 32 eine Variante von Takt 10 (bei genauerer Betrachtung ist das offensichtlich, aber aufgrund großer charakterlicher Unterschiedlichkeit vielleicht nicht sofort einleuchtend ...).

Die Abschnitte "Takt 29 bis Takt 35" und "Takt 36 bis Takt 39" sind charakterlich mit den Abschnitten "Takt 1 bis Takt 8" und "Takt 9 bis Takt 15" verwandt. Somit sticht der im Ton rabiatere, von großen Akkorden geprägte mittlere Abschnitt "Takt 16 bis 28" heraus: Dies wiederum erweckt den Eindruck einer dreiteiligen Form (A-B-A), die eine "zweite Ebene" zusätzlich zu der in diesem Text definierten Aufteilung bildet.

Der Titel 010318 – variations bezieht sich übrigens auf das Datum "1. März 2018", auf den Tag, an dem das Stück – rechtzeitig zur Deadline – fertig geworden und bei Facebook gepostet worden ist. Ich hatte mit der Komposition aber am 24. Dezember 2017 begonnen ...

 

Martin Tchiba

Projekt-Website: www.tchiba.com/netzwellen